Hye schol man schawn den harm, wie sich verwandel sein varib… Bereits in der Antike griff man auf die Betrachtung des Urins eines Kranken zurück, um Krankheiten festzustellen. Ab dem Frühmittelalter war die Harnschau das führende diagnostische Verfahren der Ärzte. Im 12. Jahrhundert entwickelte man eine Harnregionenlehre: Die analysierenden Ärzte sahen im Harnglas die Topographie (d.h. den Aufbau) des menschlichen Körpers abgebildet. Ab dem 13. Jahrhundert erscheint das Harnglas in bildlichen Darstellungen als das typische Attribut des Arztes und illustriert die Bedeutung der Harnschau für die Medizin des Mittelalters, der man lange Zeit hindurch mehr Vertrauen schenkte als etwa der Pulsgreifdiagnose.

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Durchführung

Bei der Harnschau der Urin eines Menschen von einem Mediziner betrachtet werden, um eine Krankheit festzustellen. Dabei wurde ein Diagnosegefäß, das ca. ½ Liter fasste, vor einem hellen Hintergrund hochgehoben, um Farben, Schwemmteilchen, Bodensatz und Konsistenz zu beurteilen. Zusätzlich wurden auch der Geruch und der Geschmack des Harns bewertet. Der Harn soll durch seine jeweiligen Eigenschaften den Gesundheitszustand bzw. die ‚Natur‘ des Patienten verraten. Das theoretische Fundament für die Harnschau bezog man aus der Humoralpathologie – der Lehre, dass der Körper aus vier Körpersäften besteht: Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle, deren Ungleichgewicht zu Erkrankungen führt. Auf Grundlage der Temperamentenlehre sagte man jedem der vier Menschentypen – Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker – eine eigene Grundbeschaffenheit des Urins nach, die beachtet werden musste.

So sollte der Harn des Phlegmatikers, dem die Elementarqualitäten kalt und feucht zugewiesen wurden, weiß und dick erscheinen, jener des Cholerikers (heiß und trocken) dagegen rot und dünn sein. Sanguiniker mit den Elementarqualitäten heiß und feucht sollten roten, dicken Urin lassen, Melancholiker (kalt und trocken) weißen und dünnen.

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Viele medizinische Schriften, so auch unser Admonter Bartholomäus, ein steirisches Medizinbuch aus dem 15. Jahrhundert, erwähnen die Harnschau an prominenter Stelle und geben Auskunft über Aspekte, die vor, während und nach dem Auffangen und Betrachten des Urins beachtet werden müssen:

Hye schol man schawn den harm, wie sich verwandel sein varib.

Wer den harm recht schawen will, der nem ein weiss glas vas, das lautter sey vnd oben enger den vnden. Er schol auch den harm nicht vachen, vncz der mensch geslaff des nachtes, wann der harm gewinnet nymmer recht varb vncz nach mitter nacht. Das glas vas schol man bedechken vnd schol man dann denn den harm scháwen, so die sunn auf get oder vmb mitten tag.

Hier muss man beobachten, wie der Harn seine Farbe verändert.

Wer den Harn richtig schauen will, der nehme ein weißes Glasgefäß, das klar sei und oben enger als unten. Er darf auch den Harn nicht auffangen, bevor der Mensch in der Nacht geschlafen hat, weil der Harn bis nach Mitternacht keine rechte Farbe annimmt. Das Glasgefäß muss man bedecken und den Harn erst dann schauen, wenn die Sonne aufgegangen ist oder tagsüber.

 

Diagnose

Wurde der Harn ordnungsgemäß aufgefangen und gelagert konnte man anschließend anhand des Aussehens, Geruches, Konsistenz und Farbe des Harns Krankheiten feststellen. Auch hierfür finden sich in den medizinischen Schriften des Mittelalters, wie etwa dem Admonter Bartholomäus oder dem Arzneibuch Ortolfs von Baierland, ausführliche Anleitungen und Diagn0seschemata. Der Bartholomäus spricht etwa davon, dass klarer bläulicher Urin auf eine Krankheit des Kopfes hindeutet, während eine dickflüssige Konsistenz bei weißem Harn die Erkrankung eher im Nackenbereich verortet.

Neben der Harnflüssigkeit selbst war vor allem ein etwaiger sich an der Oberfläche ablagernder Ring für die Ärzte des Mittelalters von Interesse. Bei den Ausführungen zur Beschaffenheit dieses Ringes stützt sich Ortolf von Baierland in seinem deutschsprachigen Arzneibuch auf Aegidius Corboliensis (Gilles de Corbeil, geb. um 1140, gest. um 1224). Dieser schrieb ein lateinisches in Hexametern verfasstes Carmen de urinis („Lied vom Urin“), dürfte in der Medizinschule in Salerno studiert haben und war später in Montpellier und Paris tätig.

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Beschaffenheit des Ringes an der Harnoberfläche und zugehörigen Erkrankungen nach Ortolf:

breit, dick, wasserfarben: Krankheit im Hinterhaupt durch Kälte und Feuchtigkeit

rot, dick: Krankheit vorn an der Stirn durch überschüssiges Blut

rot, klein: Krankheit in der rechten Seite durch Hitze und Trockenheit

weiß, klein: Beschwerden in der linken Kopfseite durch Kälte und Trockenheit

bleigrau, schwarz: schwächende Erkrankung des Gehirns – Todesgefahr (Genesung, wenn der Ring sich in eine rote, helle Farbe wandelt)

grün: Befürchtung, dass der Patient den Verstand verliert

 

 

Mittelalterliche Vorstellung von der Harnbildung im menschlichen Körper

Ortolf von Baierland erklärt in seinem Arzneibuch auch, wie der Mensch Nahrung zu sich nimmt und durch den Harn wieder ausscheidet. Das Buch über den Harn, das Ortolf als Ausgangstext dient, wurde von Constantinus Africanus (geb. zwischen 1010 und 1020, gest. 22.12.1087) in seiner Zeit als Mönch im Kloster Monte Cassino aus dem Griechischen in die lateinische Sprache übersetzt. Konstantin wurde im heutigen Tunesien geboren, studierte im Orient (u.a. in Bagdad und Kairo) und wirkte vor seiner Zeit in Monte Cassino in der Medizinschule von Salerno als Lehrer. Im bei Ortolf überlieferten Text wird die Verdauung folgendermaßen beschrieben:

Die Nahrung geht in den Magen. Der Magen nimmt sich, was er braucht und schickt die Nahrung dann in den Darmabschnitt und der Darm nimmt ebenfalls, was er braucht und schickt die Nahrung in einen weiteren Darmabschnitt. Dort wird die ausgeschwitzte Flüssigkeit in die Leber abgegeben und die Leber verwandelt diese in Blut. Das beste Blut nimmt sie an sich, damit sie sich ernähren kann. Von der Leber führt eine große Ader weg. Diese Ader teilt sich in zwei Gefäße. Das eine wandert hinauf durch den ganzen Körper und teilt sich in die verschiedenen Körperregionen des Menschen auf. Die andere Ader führt in die unteren Körperregionen und schickt auch dem Herz das beste Blut. Währenddessen nimmt die Lunge den Schaum des Blutes zu sich, „die gall das heÿse plut, der milcz daz pösze plut“. Der Rest des Blutes gelangt durch die Adern in die Nieren und wird zu Harn. Von dort aus geht der Harn in die Blase. Diese besitzt zwei Schließmuskeln und wenn genug Druck herrscht, öffnen sich die Muskeln und der Harn rinnt ab.

Wenn man den Harn untersucht, solle man in Hinblick auf die beteiligten Organe auch darauf achten, ob es viel oder wenig Harn ist. Wenn man große Harnmengen hat, dann kann es sein, dass man viel trinkt und wenig arbeitet. Zu viel Harn kann aber auch von einer Nieren- oder Blasenschwäche kommen. Wenn man zu wenig Harn hat, kann das davon kommen, dass man zu wenig trinkt oder reichlich schwitzt oder stuhlt. Sehr krank ist jemand, der keinen Stuhlgang und keinen Harn hat, obwohl er viel trinkt und dessen Harndrang nicht durch einen Stein verhindert wird.

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Schwangerschaftstest mittels Harnschau

Ein humorvolles literarisches Beispiel, das einen mittelalterlichen ‚Schwangerschaftstest‘ belegt, findet sich in Jans Enikels Weltchronik, wo die Geschichte der Welt vom Anbeginn bis zu Jans Enikels Lebzeiten beschrieben wird. Im Abschnitt zum Trojanischen Krieg erfahren wir, dass König Lykomedes krank ist. Kurz darauf kommt ein Arzt zu ihm und untersucht ihn. Der Arzt fordert eine Urinprobe. Daraus kann der Arzt erahnen, welche Krankheit Lykomedes hat oder nicht hat. Da der Harn erst nach Mitternacht aufgefangen werden darf, wie auch im Bartholomäus beschrieben wird, muss das seine geliebte Tochter übernehmen. Die Tochter jedoch verschüttet die Harnprobe des Vaters und uriniert selbst in das Glas. Als der Arzt den Urin schließlich begutachtet, entdeckt er eine Schwangerschaft im Harn, die daher rührt, dass die Tochter des Lykomedes eine heimliche Affäre mit Achilles hatte.

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Die Begleitumstände der Uroskopie in Jan Enikels Weltchronik entsprechen den Anweisungen, die wir auch in Medizinbüchern wie dem Admonter Bartholomäus finden: Der Kranke muss zuerst schlafen, der Harn wird nach Mitternacht entnommen und in einem zerbrechlichen (vermutlich aus Glas gefertigten) Gefäß zur Diagnose aufbewahrt.

Im sogenannten Frauenharntraktat, das sich in manchen Bartholomäus-Arzneibüchern findet, wird unter dem Titel „Das ist von der wibe harne“ erläutert, wie sich die Konsistenz und die Farbe des Harns im Verlauf einer Schwangerschaft verändert. Auch im Mittelalter wurden Urinproben also dazu verwendet, eine Schwangerschaft bereits in frühen Stadien zu erkennen. Während man damals auf das ‚Augenmaß‘ des Arztes angewiesen war, kann man heute auf Stäbchentests aus der Apotheke oder Drogerie zurückgreifen, die das Vorhandensein des Schwangerschaftserhaltenden Hormons hcG im Urin durch eine farbliche Reaktion auf dem Teststreifen darstellen.

 

Andere Verwendungen des Harns

Harn wurde im Mittelalter nicht nur zur Diagnose von Krankheiten, sondern auch in der Behandlung eingesetzt: So bildete er beispielsweise die Grundlage für Salben oder Augenwasser. Der Admonter Bartholomäus nennt Eigenharn zudem als Heilmittel gegen Fieber:

Das ist von dem fieber

Wer wil dem menschen das fieber vertreiben, der nem seinen harm, was er ain nacht prunczt vnd sied den des morgen in ainer Pfannen vnd wann der harm wirt sieden, so gewint er ainen faim. So scheppff den fáim drey stund ab vnd trinchk den harm núchter, als du aller haissest múgst. So wirt der mensch vil stúl gewinnen vnd wirt den tag kranchk in den chnien.

Das ist vom Fieber

Wer dem Menschen das Fieber vertreiben will, der nehme den Harn, den er in einer Nacht lasst, und koche ihn am Morgen in einer Pfanne und wenn der Harn kocht, dann bekommt er einen Schaum. Dann schöpfe den Schaum dreimal ab und trinke ihn auf nüchternen Magen, so heiß du kannst. Davon wird der Mensch viel Stuhl bekommen und wird an dem Tag schwach in den Knien.

So wie der Admonter Bartholomäus im 15. Jahrhundert empfehlen auch heute Alternativmediziner das Trinken von Eigenharn, insbesondere des ersten Harns am Morgen, als Wundermittel gegen viele Krankheiten, wenngleich es bis dato keinerlei Nachweis für eine positive Wirkung einer solchen Eigenharntherapie gibt.

Im Krieg wurde Harn zur ‚Vergiftung‘ von Brunnen in belagerten Plätzen verwendet. Beim Färben von Leinen und anderen Garnen verwendete man angefaulten, ammoniakhaltigen Harn als Vorbeize bzw. als Zusatz zur Farbe. In den romanischen Ländern (allen voran Italien und Frankreich) diente ausgefaulter Harn teilweise zum Wäschereinigen, auch in der Seifenherstellung fand er lange Zeit hindurch Verwendung. Was wir heute in der Toilette hinunterspülen, galt also im Mittelalter mitunter als wertvoller Rohstoff.

Autor*innen: Alexandra Fiala, Stefan Hofbauer, Ylva Schwinghammer, auf Basis der Vorarbeiten von Wolfgang Holanik, Philipp Pfeifer sowie den Schüler*innen des BG/BRG Knittelfeld Johannes Nilica, Moritz Früstük, Selina Eder, Chiara Palli

 

 

Quellen- und Literaturverzeichnis

Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland. Auf der Grundlage der Arbeit des von Gundof Keil geleiteten Teilprojekts des SFB 226 ‘Wissensvermittelnde und wissensorganisierende Literatur im Mittelalter’ zum Druck gebracht, eingeleitet und kommentiert von Ortrun Riha. Wiesbaden: Reichert 2014. (= Wissensliteratur im Mittelalter. 50.) S. 51-57. Übersetzung: Mittelalterliche Heilkunst. Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland (um 1300). Eingeleitet, übersetzt und mit einem drogenkundlichen Anhang versehen von Ortrun Riha. Baden-Baden: DWV 2014. (= DWV-Schriften zur Medizingeschichte. 15.) S. 38-44.

Gundolf Keil: Harn, -schau, -traktate. In: Lexikon des Mittelalters. Studienausgabe. Bd. 4. Stuttgart; Weimar: Metzler 1999, Sp. 1940-1941.

Wider allen den suhtin. Deutsche medizinische Texte des Hoch- und Spätmittelalters. Eine Anthologie. Hrsg., mit einer Einführung versehen und kommentiert von Thomas Bein. Stuttgart: Helfant 1989. (= Helfant Texte. 10.)

Holanik, Wolfgang; Schwinghammer, Ylva: Lernerorientierte Teiledition und Übersetzung des Admonter Bartholomäus auf Basis der dynamischen Lesefassung von Anna Tesch. Unter Mitwirkung von Lisa Glänzer, Stefan Hofbauer, Philipp Pfeifer, Laura Halb, Johanna Damberger, Sabrina Bamberger sowie den Schüler/innen des BG/BRG Knittelfeld. Graz 2018.

Jans Enikels Werke. Hrsg. von Philipp Strauch. Hannover; Leipzig: Hahn 1900. (= MGH. Dt. Chron. 3.) S. 282-284.

Die Fotos entstanden im Rahmen des Sparkling Science Projektes „Arbeitskoffer zu den Steirischen Literaturpfaden des Mittelalters am BG/BRG Knittelfeld.

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