Immer wieder stoßen wir in mittelalterlichen Texten auf Spiconardus – eine Pflanze, der unterschiedlichste heilende Wirkungen nachgesagt werden. Im Admonter Bartholomäus, der Abschrift eines Arzneibuches aus dem 15. Jahrhundert, ist ihr sogar ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten beschrieben werden.
Das sind die tugent,
die Spiconardus hat.
Aus demselben kraut macht Maria Magdalena
die salben vnserm herren Iesu Christo.
Wer Spicanardus hat,
vnd seudet sey in wasser
vnd bestreicht sich do mit,
ist er siech von dem vergicht,
er wirt gesúnt.
Vnd wer sey núczt fur den rotten siechtum,
der wirt gesunt
vnd welche fraw zú ainem chind get,
die ess der wúrczen aus ainem wein,
die wirt erlóst.
Welch fraw den vbrigen flus hat,
die bestreich ir lent domit,
so wirt sy gesunt.
Wer ein chranchkes haupt hat,
der bestreich den slaf do mit.
Wer aber ain aitter schús hat,
der streich die wúrczen durich ein pawm ól
vnd pint es dar auf,
der wirt gesunt.
Vnd wer sew legt zú gewant in schrein,
do chóment nit schaben zú.
Vnd in welhem haws sy hanget,
darein mag chain daner nicht geslachen
Vnd wer den pósen siechtum hat,
der es sew aus wein,
er wirt gesunt.
Wer geschóssen wirt mit pólczen,
der pint sy dar auf,
er wirt gesunt.
Vnd wer den vallenden siechtum hat,
der trinchk wein darab,
er wirt gesunt.
Das sind die guten Eigenschaften,
die Spiconardus hat.
Aus dieser Pflanze machte Maria Magdalena
die Salbe für unseren Herrn Jesus Christus.
Wer Spiconardus hat
und ihn in Wasser kocht
und sich damit bestreicht,
wenn er an Gicht erkrankt ist,
der wird gesund.
Und wer sie bei der roten Krankheit (Ruhr) anwendet,
der wird gesund.
Und welche Frau ein Kind erwartet,
die esse die Pflanze in Wein,
dann wird sie erlöst.
Welche Frau übermäßigen Ausfluss hat,
die bestreiche ihre Lenden damit,
dann wird sie gesund.
Wer einen kranken Kopf hat,
bestreiche die Schläfen damit.
Wer eine eiternde Wunde hat,
der ziehe die Pflanze durch Olivenöl
und binde sie darauf,
dann wird er gesund.
Und wenn man sie zur Kleidung in den Schrank legt,
kommen dort keine Schaben hin.
Und in welchem Haus sie hängt,
in das wird kein Donner einschlagen.
Und wer die böse Krankheit (Epilepsie) hat,
der siede sie in Wein,
er wird gesund.
Wer von einem Pfeil getroffen wurde,
der binde sie darauf,
er wird gesund.
Und wer die Fallsucht (Epilepsie) hat,
der trinke Wein dazu,
er wird gesund.
Spiconardus – Was ist das eigentlich?
Der Name „Spiconardus“ setzt sich aus zwei Pflanzenbezeichnungen zusammen: Speik und Narde. Neben dem sogenannten Echten Speik (lat. Valeriana celtica), einem Baldriangewächs, das vor allem in der Steiermark und in Kärnten zu finden ist, werden mit „Speik/Speick“ im Alpenraum auch heute noch generell stark duftende Pflanzen bezeichnet (z.B. Lavendel, Schafgarbe und diverse Primelarten). Auch der Name „Narde“ ist nicht auf eine einzige Pflanze beschränkt: Heute ist damit in der Regel die indische Narde (Nardostachys grandiflora) gemeint, die seit der Antike für die Herstellung kostbarer Salben und Öle verwendet wurde, im Mittelalter können die Bezeichnungen „Narde“ und „Spiconardus“ aber auch für die obengenannten heimischen Pflanzen stehen (vor allem für Echten Speik und Lavendel, der offenbar auch häufig mit der indischen Narde verwechselt wurde).
Die Verdächtigen:
Echter Speik (auch: Alpenbaldrian, Valeriana celtica, früher spica celtica): Echter Speik ist in den Alpen beheimatet und hat kleine, weißgelbliche Blüten. Er gehört zu den Baldriangewächsen, in deren Wurzeln sich ein ätherisches Öl findet. Sein Geruch wird als „kampferartig, erfrischend anregend beschrieben,“ (Gentner, S.63) weshalb er seit der Antike für die Herstellung v0n Parfüm, Würzweinen, als Räucherwerk (auch zum Vertreiben böser Geister) und auch für die Seifenproduktion verwendet wird. Im Mittelalter wurden ihm vielfältige Heilwirkungen zugeschrieben, Speikgraben galt lange als eigener Beruf und die Pflanze wurde bis in den Orient exportiert. Bis heute wird er im Alpenraum in Kleiderschränke gelegt, um Motten zu vertreiben. Über eine Nutzung in der Schulmedizin der Gegenwart konnte im Rahmen der Recherchen nichts gefunden werden, die Naturheilkunde schreibt dem Echten Speik heute eine ausgleichende Wirkung auf das Nervensystem zu.
Indische Narde (auch: Nardenähre, Speichenähre, Spikenard, Nardostachys grandiflora DC): Wie der Echte Speik zählt auch die indische Narde zu den Baldriangewächsen. Sie wächst im Himalaya und wurde bereits in der Antike bis in den Mittelmeerraum exportiert. Die Narde wird in der klassischen indischen Heilkunde als Extraktpflanze verwendet, findet als Räucherwerk Anwendung und wird in der Bibel in Zusammenhang mit Salböl erwähnt (siehe unten). Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit wurden der Pflanze vielfältige Heilkräfte zugesprochen. Heute findet sie als ätherisches Öl vor allem im naturheilkundlichen und auch im esoterischen Bereich Anwendung, wie andere Baldrianarten soll sie beruhigend und entspannend wirken. Abergläubische Menschen schreiben der Pflanze auch heute noch magische Wirkungen zu, so soll es beispielsweise helfen, den ‚Prozess des Liebens‘ zu unterstützen und bei Ängsten ein kleines Fläschchen davon in der Handtasche zu tragen.
Lavendel: Für die Herstellung von Lavendel- bzw. Speiköl kommen zwei Unterarten in Fragen, der Echte Lavendel (Lavandula angustifolia) und der Speik-Lavendel (auch: Breitblättriger Lavendel, Lavandula latifolia), die vor allem im südlichen Europa beheimatet sind. Im Mittelalter wird der Lavendel selbst nur selten erwähnt (etwa als Bierwürze oder bei Hildegard von Bingen, die ihn für wirksam gegen Läuse erwähnt), was auch daran liegen kann, dass er mit der Narde verwechselt wurde und unter anderem Namen in Texten auftaucht. Wissenschaftlich erwiesen gilt seine Wirkung gegen diverse Pilzerkrankungen, in der Naturheilkunde wird er bis heute auf vielfältige Weise eingesetzt (z.B. bei Verspannungen, Rheuma, Kopfschmerzen und Verdauungsstörungen). Aufgrund seines ausgeprägten Duftes findet er Verwendung in der Parfüm- und Seifenindustrie, als Badezusatz und zum Vertreiben von Insekten sowie um den Geruch von Arzneimitteln zu verbessern.
Spiconardus in der mittelalterlichen Fachliteratur
Neben dem Traktat im Admonter Bartholomäus wird Spiconardus auch in anderen medizinischen Fachtexten des Mittelalters erwähnt.
In Konrads von Megenberg Buch der Natur wird die indische Narde beschrieben, Konrad beruft sich hier auf einen Gelehrten namens Platearius. Hier erfahren wir etwas über das Aussehen und den Geschmack der Pflanze, die in Syrien und Indien beheimatet ist, z.B. dass sie Dornen hat und ihr Geruch dem Zypressenbaum ähnelt, ihre Blüten wohlriechend sind und sie die Zunge trocken macht, wenn man sie länger im Mund lässt. Gemäß der Elementenlehre werden der Pflanze hier die Eigenschaften heiß und trocken zugewiesen und ebenfalls zahlreiche medizinische Anwendungsgebiete aufgezählt. Gleich wie im Bartholomäus wird die äußerliche Anwendung bei Gicht empfohlen und die Wirkung bei Epilepsie erwähnt, wobei hier im Gegensatz zum Admonter Bartholomäus auch die Anwendung einer Salbe beschrieben wird und nicht das Trinken mit Wein – dieses wird stattdessen für Erkrankungen von Magen, Darm, Leber und Milz empfohlen. Außerdem sei die Pflanze gut für Herz und Brust. Gynäkologische Anwendungsgebiete und Nutzung zur Wundheilung werden hier nicht erwähnt.
Das Buch der Natur kennt zwei Zubereitungs- bzw. Anwendungsarten, die im Admonter Bartholomäus nicht genannt werden: Mit Zucker und Rosenwasser kann ein Sirup hergestellt werden und bei Beschwerden an Hirn sowie Kopf hilft es, das Kraut unter die Nase zu halten. Der Hinweis auf Maria Magdalena und Jesus kommt nicht vor, dafür wird die Pflanze ob ihrer Heilsamkeit abschließend mit der Gottesmutter Maria verglichen – beide seien voller Gnade.

Auch der Macer Floribus aus dem 11. Jahrhundert, im Mittelalter das Standardwerk der Kräuterheilkunde, kennt die Pflanze und weist ihr die Eigenschaften heiß und trocken zu (mit der Präzisierung „ersten Grades“). Als medizinische Wirkungen zählt er die folgenden auf: getrunken kräftigt sie Leber, Magen und säubert die Lenden, sie hilft gegen Keuchen, Stechen und Grimmen im Magen sowie gegen Blähungen, mit warmem Wasser lindert sie Herzrasen und Brechreiz. Ähnlich wie im Bartholomäus findet sich hier auch eine gynäkologische Wirkung: Die Pflanze beschleunigt die Menstruation, womit analog zum Bartholomäus gemeint sein dürfte, dass sie die Blutung stoppt. Als einzige dezidiert äußerliche Anwendung wird das Streichen unter die Augen beschrieben, dass gegen Juckreiz hilft. Es wird abschließend erwähnt, dass es zwei Arten von Spicanardus gibt, nardus indica, und spica celtica, die beide diese Wirkung hätten.
Im Gart der Gesuntheit des Johannes von Cuba, einem Buch aus dem späten 15. Jahrhundert, werden zwei Arten von Spiconardus detailliert beschrieben: einmal die rote indische Narde (spica nardi) und einmal eine weitere Speikart mit weißen Blüten (spica celtica). Auch Johannes von Cuba beruft sich wie Konrad von Megenberg bei seinen Ausführungen zum Aussehen und den Eigenschaften der Pflanzen auf andere Quellen (Serapio, Plinius, Galen, Diascorides) -wir wissen auf Basis dieser Textstelle also nicht, ob er die Pflanzenarten jemals selbst zu Gesicht bekommen hat. Wie in den anderen Texten wird sie als heiß und trocken beschrieben. Die Pflanze wird als gut für Augen, Magen und Leber beschrieben, wirkt gegen Durchfall, Gicht (an Füßen und anderen Gliedern) bei Erlahmung sowie harntreibend. Erstmals wird hier eine Verwendung als Pflaster genannt; auch die Anwendung gegen Haarausfall kommt in keinem anderen der Texte vor. Während im Macer Spiconardus mit warmem Wasser getrunken werden soll, um seine gute Wirkung auf das Herz zu entfalten, wird im Gart der Gesundheit gegenteilig angegeben, dass er gegen das ‚Zittern und die Ohnmacht des Herzens‘ in kaltem Wasser zu sich genommen werden soll. Wie im Macer und im Bartholomäus findet sich auch hier ein Hinweis, dass die Pflanze zum Stoppen der weiblichen Monatsblutung genutzt werden kann. Beide beschriebenen Spiconardus Arten hätten dieselbe Wirkung, wobei die indische Narde in allen Belangen wirksamer wäre, lediglich die harntreibende Wirkung sei bei spica celtica stärker.
Es lässt sich also feststellen, dass der Spiconardus in wesentlichen medizinischen Werken des Mittelalters erwähnt und beschrieben wird und ihm vielfältigste Heilkräfte zugesprochen wurden. Einige medizinische Eigenschaften und Anwendungsweisen sind in mehreren Werken identisch bzw. ähnlich beschrieben, in anderen Belangen weichen die einzelnen Texte voneinander ab. Von den untersuchten Beispielen enthält ausschließlich der Admonter Bartholomäus Hinweise auf eine Verwendung im Haus zum Vertreiben von Ungeziefer und als magischer Schutz gegen Gewitter. Auch die Anwendung bei von Pfeilen verursachten Wunden und der Einsatz zur Beschleunigung/Einleitung der Geburt kommt nur hier vor.
Neben Arzneibüchern erwähnen auch Kochrezeptsammlungen die Narde:
Im Kochbuch des Meister Eberhards von Landshut wird erklärt, wie das heilsame Nardenöl hergestellt werden kann: Man soll hierzu die ganze Pflanze in Wasser mit Öl kochen und 20 Tage ziehen lassen, damit das Öl die Kraft der Pflanze aufnimmt. Eingeleitet wird das Rezept von einer Art Sprichwort: Oleum nardinum das fleußt in Indea auß einem stein nit als man sagt. (Nardenöl fließt in Indien nicht aus einem Stein, wie man sagt.) Da sich diese Aussage bisher in keinem anderen Text finden ließ, kann man nicht sagen, ob es sich hierbei um eine allgemein bekannte Redewendung oder eine Eigenschöpfung des Kochbuchverfassers handelt.
In der Münchener Rezeptsammlung ain weizz gemùess oder ain weizz chost mach also (Cgm 415) findet sich zwei Rezepte, in denen Spiconardus mit anderen edlen und exotischen Gewürzen empfohlen wird, um Wein zu aromatisieren.
Die Narde in der Bibel
Die Narde wird mehrfach in der Bibel erwähnt, sowohl im Alten, als auch im Neuen Testament. Im sogenannten Hoheslied, einer Sammlung von Liebesliedern im Alten Testament, ist die Narde Teil des immer wiederkehrenden Gartenmotivs in der gegenseitigen Lobpreisung zweier Liebender.
Hl 1,12 Bis dorthin, wo der König an seiner Tafel liegt, gibt meine Narde ihren Duft.
Hl 1,13 Ein Beutel Myrrhe ist mir mein Geliebter, der zwischen meinen Brüsten ruht.
Hl 4,10 Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester Braut, wie viel süßer ist deine Liebe als Wein, der Duft deiner Salben köstlicher als alle Balsamdüfte.
Hl 4,11 Honigseim tropft von deinen Lippen, Braut, Honig und Milch sind unter deiner Zunge. Der Duft deiner Kleider ist wie der Duft des Libanon.
Hl 4,12 Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlossener Born, ein versiegelter Quell.
Hl 4,13 An deinen Wasserrinnen – ein Granatapfelhain mit köstlichen Früchten, Hennadolden samt Nardenblüten,
Hl 4,14 Narde, Krokus, Gewürzrohr und Zimt, alle Weihrauchbäume, Myrrhe und Aloe, allerbester Balsam.
Hl 4,15 Die Quelle des Gartens bist du, ein Brunnen lebendigen Wassers, das vom Libanon fließt.
Sowohl Mann als auch Frau werden mit wohlriechenden exotischen Pflanzen und Gewürzen verglichen, unter anderem eben mit der Narde, die hier in Zusammenhang mit „Duft“ und „allerbestem Balsam“ genannt wird.
Die rituelle Salbung mit duftenden Ölen und Balsamen zur Pflege, Heilung, aber auch zu Anlässen wie Machtübergaben und Krönungen wurde bereits in altorientalischen Kulturen praktiziert und vom Christentum übernommen. Im neuen Testament wird Jesus von Maria von Betonien bei Tisch gesalbt, woraufhin eine Diskussion über die Verschwendung des kostbaren Öls entbrennt. Diese Szene wird sowohl im Markus- als auch im Johannesevangelium beschrieben, wobei sich beide Schilderungen in vielen Details unterscheiden (z.B. wird bei Markus das Öl in einem Alabastergefäß aufbewahrt und der Kopf von Jesus damit übergossen (Mk 14,3), bei Johannes werden ihm die Füße gesalbt und anschließend von Marias Haar getrocknet (Joh 12,3). Interessant scheint der Hinweis in beiden Evangelien, dass es sich dabei um „echtes kostbares Nardenöl“ handelt und die Kritik, dieses an Jesus verschwendet zu haben, anstatt es zu verkaufen und das Geld den Armen zu spenden. Jesus selbst befürwortet die Salbung mit der Begründung, „die Armen habt ihr immer bei euch und ihr könnt ihnen Gutes tun, sooft ihr wollt; mich aber habt ihr nicht immer“ (Mk 14,7). Bei Johannes weist er darauf hin, dass Maria das Öl für sein Begräbnis aufbewahren soll (Joh 12,7) Eine weitere Bibelstelle nennt zwar die Narde nicht explizit, wird aber oft mit der Nardenölsalbung in Verbindung gebracht: Im Lukasevangelium (Lk 7,36) ist Jesus bei einem Pharisäer zu Gast, als eine Sünderin erscheint, Tränen auf seine Füße vergießt, diese mit ihren Haaren trocknet, küsst und mit duftendem Öl salbt. Diese namenlose Sünderin wird bereits im vierten Jahrhundert n.Chr. immer wieder mit Maria Magdalena gleichgesetzt, obwohl die Bibel eigentlich keine Anhaltspunkte dafür liefert. Häufig wird auch in Maria von Bethanien und Maria Magdalena dieselbe Person gesehen, was erklärt, warum im Admonter Bartholomäus von einer Nardensalbe die Rede ist, die Maria Magdalena für Jesus verwendet.

Auf Spurensuche in der Dichtung des Mittelalters
In Zusammenhang mit der Verwendung von Spiconardus in der mittelalterlichen Medizin erschienen vor allem drei literarische Werke interessant: Wolframs von Eschenbachs Parzival, Wirnt von Grafenbergs Wigalois sowie Seifrits Alexander. In allen drei Werken dürfte die indische Narde gemeint sein, dezidiert zu Lavendel oder Alpenbaldrian fanden sich keine Erwähnungen in erzählenden Texten.
Im Parzival wird die kostbare Nardensalbe als einer von zahlreichen erfolglosen Versuchen erwähnt, den von einer Speerspitze in der Lendengegend verwundeten Gralskönig Amfortas zu heilen (der jedoch nur von einem würdigen Nachfolger durch die Mitleidfrage erlöst werden kann, weshalb auch die teuersten und besten Arzneien wirkungslos bleiben). Die Erwähnung von Nardensalbe in diesem Zusammenhang passt zu der Stelle im Admonter Bartholomäus, da hier (im Gegensatz zu allen anderen untersuchten medizinischen Werken) dezidiert erwähnt wird, dass Spiconardus bei Verletzungen durch polczen (also Kampfverletzungen durch einen Armbrustbolzen oder Pfeil) eingesetzt werden soll. Da in der Erzählung alles darangesetzt wird, – also weder Kosten noch Mühen gescheut werden –den verwundeten König zu heilen, können wir dem Text entnehmen, dass es sich um eine Arznei handelt, die im Mittelalter als überaus wirksam und kostbar (und damit dem Gralskönig würdig) galt.
Ähnliches lässt sich auch aus der Textstelle im Wigalois ableiten, wo Spiconardus in Zusammenhang mit einem äußerst kostbaren und wunderbar duftenden Balsam erwähnt wird, der in einem wertvollen Kristallgefäß aufbewahrt wird und alle erdenklichen Wunden heilen kann. Neben dem Wigalois gibt nur das Markusevangelium einen Hinweis darauf (Alabastergefäß), in welcher Form die kostbaren Öle und Salben aufbewahrt und transportiert werden konnten.
In Seifrieds Alexander wird eine Anwendung des Spiconardus beschrieben, die interessanterweise nur in der erzählenden Literatur, nicht aber in den medizinischen Fachbüchern der Zeit vorkommt: Hier wird nämlich an zwei Stellen beschrieben, dass ein Leichnam mit Spiconardus und anderen exotischen Gewürzen einbalsamiert wird, um schlechten Geruch zu überdecken und die Fäulnis abzuhalten. Die Aussage von Jesus im Johannesevangelium, Maria solle das Öl für sein Begräbnis aufbewahren, könnte ein Hinweis darauf sein, dass es zu diesem Zweck verwendet werden soll.
Das Rätsel um den Spiconardus in unseren alten Schriften konnten wir also nicht restlos aufklären: Welche dieser Pflanzen tatsächlich gemeint wurde, lässt sich in Bezug auf einzelne Texte oft nicht mehr zweifelsfrei beantworten. Im Falle des oben erwähnten Spiconardus-Traktates des Admonter Bartholomäus liegt die Annahme nahe, dass Narde und Lavendel (oder Echter Speik) vermischt bzw. verwechselt wurden. Während der Hinweis auf die Salbe von Maria Magdalena im Text eher auf die indische Narde hindeutet, die mehrfach in der Bibel als Grundstoff für kostbare Salben erwähnt wird, lässt nämlich die Verwendung der ganzen getrockneten Pflanze aufgehängt im Haus oder Kleiderschrank eher an die Nutzung einer bei uns in Europa heimischen (und daher leicht verfügbaren) Pflanze denken.
Verfasserin: Ylva Schwingammer
Quellen:
Georg Gentner: Einiges über den Speik. In: Jahrbuch des Vereins zum Schutze der Alpenpflanzen 4/1932, S. 63-75.
Heilpflanzen der gemäßigten Zonen. Beschreibungen und Abbildungen aus alten und neuen Quellen. Online unter: http://heilpflanzen.wiethase.de. [Stand vom 7.2.2018]
Das „Maria Magdalena Öl“ – das Nardenöl. Online unter: https://mariamagdalena.jimdo.com/das-maria-magdalena-öl-nardenöl/ [Stand vom 7.2.2018].
Nardenöl. Online unter: https://www.ätherisches-öl.com/nardenoel [Stand vom 7.2.2018].
P. Dilg: Lavendel. In: LMA 5 (1991), Sp. 1771.
Helmut Birkhan: Pflanzen im Mittelalter. Eine Kulturgeschichte. Köln; Wien: Böhlau 2012.
Konrad von Megenberg. Das Buch der Natur: die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart: Aue 1861, S. 409f.
Der deutsche ‚Macer‘ (Vulgatfassung) mit einem Abdruck des lateinischen Macer Floridus ‚De viribus herbarum‘. Hrsg. von Bernhard Schnell in Zusammenarbeit mit William Crossgrove. Tübingen: Niemeyer 2003. (= Texte und Textgeschichte. 50.) S. 377f.
Johannes von Cuba: Gart der Gesuntheit. Mit einer Vorrede von Bernhard von Breydenbach. Augsburg 1485. (GW-Nr. MO9751) – Textabdruck nach dieser Ausgabe mit leichten Eingriffen: Superskripte (ue bzw. uo wurden aufgelöst, ebenso Nasalstriche und Abkürzungen für -er-). Die Paragraphentrennung wird durch Leerzeilen wiedergegeben.
Online unter http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0005/bsb00057068/images/index.html?id=00057068&groesser=&fip=qrseneayaeayaenqrsfsdreayafsdrw&no=&seite=600 [29.01.2018].
Thomas Glonig: Digitale Edition des Kochbuchs des Meisters Eberhard. Auf Basis der Edition von Anita Feyl: Das Kochbuch Meister Eberhards. Freiburg/Br.: Univ., Diss. 1963. Online unter: http://www.staff.uni-giessen.de/gloning/tx/feyl.htm [26.01.2018].
Natascha Guggi: ain weizz gemùess oder ain weizz chost mach also. Dynamische Edition des Kochbuchs der Handschrift Cgm 415. Mit Glossar und Rezeptregister. Graz: Univ., MA-Arb. 2013, S. 329f.
Alle Bibelstellen online unter: https://www.bibleserver.com/
Wolfram von Eschenbach: Parzival. Hrsg. v. Albert Leitzmann, 7. Aufl. Tübingen 1961. (=ATB 12)
Seifrits Alexander aus der Straßburger Handschrift, hrsg. v. Paul Gereke, Berlin 1932.
Wigalois der Ritter mit dem Rade, von Wirnt von Gravenberc, hrsg. v. J.M.N. Kapteyn, Bonn 1926.
Bildquellen:
Illustration of Jatamansi, Nardostachys grandiflora DC. Aus: John Forbes Royle – Illustrations of the botany and other branches of the natural history of the Himalayan Mountains and of the flora of Cashmere. Volume 2, 1839. S. 54.
Valeriana celtica. Aus: Anton Hartinger: Atlas der Alpenflora. 1882. Online unter: https://archive.org/details/atlasderalpenflo00hart
Valeriana celtica. Aus: Graf, Ferdinand; Petrasch, Joh.; Seboth, Joseph: Die Alpenpflanzen nach der Natur gemalt. 1879. S. 41. Online unter: https://www.biodiversitylibrary.org/page/39674241
Lavandula angustifolia. Aus: Prof. Dr. Otto Wilhelm Thomé: Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz. 1885.
Die Buße der Maria Magdalena. Aus: ‚Spiegel menschlicher gesuntheit‘. Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 432, Bl. 018v
Nardus /Nardenkraut; (aus Konrads von Megenberg „Buch der Natur) in: Hartlieb, Johannes: Kräuterbuch. Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 311, Bl. 293v
Alle Fotos: Ylva Schwinghammer
Ein Gedanke zu “Spiconardus – der geheimnisvolle Unbekannte”